Kiemenatmung
„Tief Luft holen. Lange ausatmen. Keine menschliche Handlung ist so fundamental wie das Atmen. Der Atem bildet den Kern des menschlichen Lebens. Es erscheint ganz folgerichtig, dass Ankabuta
ihrer aktuellen Ausstellung und dieser Publikation den Titel „Atem“ gegeben hat: Wie Menschen Sauerstoff zum Leben benötigen, braucht Ankabuta ihre Kunst, oder genauer gesagt: den Prozess des
Kunstschaffens. Wer die Künstlerin kennt, weiß, wie zentral die Kunst in ihrem Leben ist, mit welcher Energie und Ausdauer sie künstlerische Visionen verfolgt. Sei es das eigenhändige Formen von
15290 Ameisen, das Sticken mit 7815 Nadeln oder das Falten von unzähligen kleinen Sternen; immer ist ihre kompromisslose Beharrlichkeit sichtbar. Es ist daher nicht verwunderlich, dass Ankabuta
schon früh von dem Künstler Roman Opałka inspiriert wurde, der ein Leben lang sein künstlerisches Konzept aus Zahlen und Selbstbetrachtungen bis zu seinem Tod verwirklichte.
In Ankabutas ähnliche künstlerische Vorwärtsbewegung ist vor wenigen Jahren ein Ruhepol eingetreten, Ankabutas Sohn Roah, mit eigenem Atem. Viele Hunderte Zeichnungen hat sie von ihm angefertigt, von denen über 150 in der Ausstellung zu sehen sind. Sie zeigen Roah meist schlafend, und wir können uns den Klang seines Atems vorstellen. Den Zeichnungen sind gelegentlich – wie bei Ankabutas gemaltem „Tagebuch“ von 2005 – kleine notierte Gedanken und Beobachtungen beigefügt. Die Roah-Porträts – Betrachtungen des neuen Lebens und Widerspiegelungen der eigenen Existenz – atmen den Geist von zwei Heroen der Künstlerin: Käthe Kollwitz und Otto Dix. Beide haben mit ihren einfühlsamen Kinderbildnissen die Zeitlosigkeit dieses Genres manifestiert und beide waren ein Grund, weswegen Ankabuta überhaupt nach Deutschland gekommen ist: Die Tiefe und Ausdruckskraft der Zeichenkunst und Malerei des deutschen Expressionismus hatte die junge Künstlerin derart fasziniert, dass sie ohne bisherige Begegnung mit Land und Sprache nach Deutschland zog. Erst hier erweiterte die Malerin und Zeichnerin Ankabuta ihr künstlerisches Spektrum um Video- und Textilarbeiten, Installationen und Performances.
Diese Freude am Experimentieren führte sie zur Technik der Drahtzeichnung, mit der sie 2014 in Darmstadt das monumentale Wandbild „Kopfspiel“ geschaffen hat. Ausgehend von ihren Bleistiftzeichnungen war sie über ihre Stickarbeiten und den Drahtaufbau ihrer kleinen Ameisen zum freien Fluss der Drahtlinien gelangt. Es ist bemerkenswert, wie sie die Flüchtigkeit und Spontaneität des Skizzierens in fließende körperhafte Drahtlinien übersetzt. Hierbei verwendet sie versilberten Draht in drei verschiedenen Stärken, entsprechend unterschiedlichen Linienstärken einer Zeichnung. Die entstandenen Drahtgebilde und -bilder von markanten Bauwerken in Wiesbaden entfalten erst auf einer Wand montiert und kräftig ausgeleuchtet ihre volle Wirkung: Die Linien werfen Schatten und erhalten eine Dreidimensionalität, sie werden zur Skulptur. Es entstehen umzeichnete Hohlräume, umbaute Luft, schwebende Baukörper. Ankabuta „verbindet” ihre Kunst und sich selbst mit den Wahrzeichen von Wiesbaden, so wie sie dies bereits mit früheren Wohnorten gemacht hat.
Es ist die für Ankabuta charakteristische Verbindung von Kunst und Leben. Kunst als Atem. Schon im Jahr 2004 hat die Künstlerin in einem Text das Atmen thematisiert und die Kunst mit einem
„klaren See” verglichen: Um „tiefer in das Innere” zu gelangen und das „Grenzenlose” auszuloten, wäre es wichtig „gute Kiemen“ zu finden. Angesichts der in Wiesbaden entstanden Werke der letzten
Jahre scheint Ankabuta ihre Kiemen gefunden zu haben.”
“Ankabuta SHUM/ATEM” Rede zur Ausstellungseröffnung Kunsthalle Wiesbaden
Dr. Philipp Gutbrod (Direktor Institut Mathildenhöhe Darmstadt)